10.09.2003 - Mit Volldampf in die neue Zeit - 150-jähriges Neusser Eisenbahnjubiläum
Keiner sollte das Ereignis verpassen. Darum feuerte das städtische Geschütz der Stadt Neuss Salut, als am 17. Januar 1853 der erste Zug in den Bahnhof Neuss - von Oberkassel kommend - einfuhr. Mit ihm wurden die plan¬mäßigen Fahrten auf der Linie Düsseldorf/Oberkassel über Neuss und Mönchengladbach nach Aachen aufgenommen.
Neuss war nun an den Schienenstrang angeschlossen und direkt mit Düsseldorf/Oberkassel, Kleinenbroich, Gladbach, Rheydt, Wickrath, Erkelenz, Baal, Lindern, Geilenkirchen, Herzogenrath, Kohlscheidt und Aachen verbunden.Obwohl dieses Ereignis dem "Neußer Kreis-, Handels- und Intelligenzblatt" am Mittwoch, dem 19. Januar 1853 nur eine kurze Meldung wert war, wurde mit diesem Datum ein völlig neues Kapitel in der Neusser Stadtgeschichte aufgeschlagen. Noch mehr als der Hafen, der in dieser Zeit nur von geringer Bedeutung war, weil man ihn noch nicht ausgebaut und zu einem Industriehafen erweitert hatte, war die Eisenbahn bis zum Ende des 19. Jahrhunderts der wirtschaftliche Motor der Stadt Neuss. Denn nun waren wichtige und zugleich neue Absatzmärkte für die Handelsgüter aus Neuss besser zu erreichen. Vor allem waren die guten Transportbedingungen in den bereits industrialisierten Gladbacher Raum von Bedeutung. Hier bestand zudem ein Anschluss an die Ruhrort-Krefeld-Kreis Gladbacher Eisenbahn, die man am 15. Oktober 1851 eröffnet und am 12. August 1852 im Bereich Gladbach-Rheydt mit der Linie Aachen-Düsseldorf verbunden hatte. Dies war insbesondere für die Neusser Wirtschaftsbeziehungen mit dem Ruhrgebiet von großem Interesse. Für den Personen- und Güterverkehr boten sich nun ganz neue Möglichkeiten. Das Jubiläumsjahr und die mit dem Eisenbahnanschluss sich ergebenden gravierenden Auswirkungen für Neuss, ist für das Clemens-Sels-Museum Anlass, diesem Ereignis vom 11. September bis zum 26. Oktober 2003 eine Ausstellung zu widmen. Dabei wird die Ausstellung nicht nur den Entwicklungsprozess, wie es zum Anschluss an das Bahnnetz kam, darstellen, sondern auch die Folgen in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht. Denn der 17. Januar 1853 war nicht das Ende eines langjährigen und wechselvollen Prozesses. Er war vielmehr Ausgangspunkt für eine weitere dynamische Entwicklung, die in einen Modernisierungsprozess mündete. Für diesen war es von Bedeutung, dass Neuss zu einem Eisenbahnknotenpunkt wurde. So eröffnete man 1855 die Linie Köln-Neuss und 1856 folgte die Weiterführung der Strecke bis nach Krefeld, die 1863/65 dann bis Kleve und Nimwegen führte. Hier hatte man Anschluss bis nach Rotterdam und Amsterdam.1868 kam eine eine direkte Gleisverbindung von Osterath nach Hochfeld hinzu, die über das Trajekt Rheinhausen-Hochfeld eine weitere Rheinüberquerung ermöglichte. 1869 und 1878 eröffnete man dann die Strecken Neuss-Düren sowie Neuss-Viersen-Neersen. Damit bestand ein Anschluss nach Venlo.Das Wachsen des Schienennetzes spiegelt sich auch in den Neusser Tageszeitungen wider. Mit jeder neuen Verbindung erschienen hier Anzeigen und Beilagen zu den neuen Streckenverbindungen mitsamt den Fahrplänen. Mithin ein interessanter Service für eine Bevölkerung, deren Mobilität quasi auch mit dem Netz wuchs, was sich an Hand der Fahrgastzahlen belegen lässt. Reisten 1843 mit der Kutsche 23.000 Personen über Neuss, so waren es 1885 bereits 1.228.000 Personen, die die Bahn nutzten. Neben den Geschäftsreisenden und Pendlern, die in diesen Zahlen enthalten sind, stieg aber auch die Zahl der Reisenden, die zu einem privaten Zweck oder als Touristen die Fahrt mit der Bahn antraten. Interessanterweise kam dies schon zu einer Zeit auf, als es in Neuss noch keinen Bahnanschluss gab. Denn seit 1839 kündigte die Düsseldorf-Elberfelder Eisenbahngesellschaft ? einige Neusser hielten Aktien von dieser Gesellschaft und man nutzte die Bahn, um Güter im industrialisierten bergisch-märkischen Raum abzusetzen - in den Ausgaben des "Neußer Intelligenzblattes" wiederholt zusätzliche Züge an Sonn- und Feiertagen in den Frühlings- und Sommermonaten an. Eigene Inserate hierzu schaltete die Gesellschaft auch für die Pfingstwoche und für den zweiten Weihnachtstag. Als dann Neuss ebenfalls über einen Bahnanschluss verfügte, mehrten sich die Inserate der Bahngesellschaften, die für Sonderzüge oder Vergnügungsfahrten warben. So wurde z.B. am 25. Mai 1855 "Neußer Kreis-, Handels- und Intelligenzblatt" ein Sonderzug zu dem Niederrheinischen Sängerfest in Düsseldorf angekündigt. Ebenso in den Jahren 1857, 1858 und 1863, in denen im Sommer die Sängerfeste in Krefeld, Köln und Aachen stattfanden. Ferner wurde am 4. August 1861 sowie am 1. August 1862 in dem erwähnten Blatt für Extra-Vergnügungszüge zum Rolandseck bei Koblenz geworben. In beiden Jahren verkehrten die Züge, die jeweils 600 Personen Platz boten, zwei- bis dreimal, weil das Angebot offensichtlich gut angenommen wurde. Um 8.35 Uhr morgens fuhr man von Neuss aus ab und kehrte am Abend um 9.10 Uhr zurück. 1863 setzte man im Sommer erneut einen Vergnügungszug ein. Dieses Mal war das Ziel Ems an der Lahn. Es setzte also mit dem neuen Verkehrsmittel schon recht schnell eine frühe Form des Tourismus ein, der später selbst zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor wurde. Auch Neuss erkannte im Laufe der Zeit sein touristisches Potential und unternahm entsprechende Werbemaßnahmen. So erschienen seit der Jahrhundertwende Werbeplakate, die für Reisen nach Neuss warben. Herausgestellt wurde die traditionsreiche Geschichte, das Museum, die bedeutenden Industrien, der Hafen und der Eisenbahnanschluss. Außerdem stellte man hier auch Souveniers her. Eines hat sich in der Sammlung des Museums erhalten. Es handelt sich um eine kolorierte und gerahmte Ansicht des Marktes aus der Zeit der Jahrhundertwende, die kunstvoll gerahmt und mit einem gewölbten Glas abgedeckt ist, um eine bessere Ansicht der Bilddetails zu ermöglichen.Nicht unerwähnt bleiben sollen außerdem die mannigfaltigen Motive der Ansichts- und Grußkarten - darunter auch Ansichten des Neusser Bahnhofs -, die die Verlage seit den 1870er Jahren in hohen Auflagezahlen produzierten. Einige waren sogar mit einem Leporello ausgestattet, den man mit einer Lasche aufziehen konnte, auf dem dann weitere Ansichten von Neusser Straßen, Plätzen und Gebäuden zu sehen war. Es wurden sogar um die Jahrhundertwende zwei Scherzkartenmotive hergestellt. Es handelt sich um gedruckte, kolorierte Zeichnungen, die in ihrem rechten Rand Fototgrafien von Neusser Gebäuden zeigen. Die Zeichnungen selbst stellen eine Dame bzw. einen Herren dar, wie sie gerade die Treppen eines Bahnhofes herunterstürzen. Dabei fallen die Kleider aus den Koffern und es zerbrechen Reiseuntensilien. Kommentiert wird dies: "Bin soeben in Neuss, glücklich angekommen."Die Bedeutung der Stadt wuchs noch einmal mit der Fertigstellung der Bahnbrücke zwischen Neuss und Düsseldorf-Hamm im Jahr 1870. Diese wurde 1913 ausgebaut und parallel zu ihr eine weitere zweispurige Eisenbahnbrücke angelegt. Die zentrale und wichtige Stellung von Neuss im Eisenbahnnetz gaben ebenfalls den Ausschlag für den Bau eines neuen großen und repräsentativen Stationsgebäudes, in dem beide Bahngesellschaften, die hier Strecken betrieben, ihre Aufgaben entsprechend des wachsenden Verkehrs wahrnehmen konnten. Mit dem zunehmenden Bahnverkehr wurde auch der Bau eines neuen Stationsgebäudes auf dem Neusser Bahnhofsgelände notwendig. Seit 1853 hatte es ein provisorisches Bretterhäuschen gegeben, dass schon zur Eröffnung der Linie Aachen-Düsseldorf als unzulänglich empfunden wurde. Erst 1861/62 kam es zu einem Neubau, dessen Ansicht durch eine Grafik von 1865 aus dem Verlag Kraus, Bremen erhalten ist. 1875/76 folgte ein weiterer Neubau, der um 1910 durch die Höherlegung der Bahndämme erheblich verändert wurde. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Bahnhof fast vollständig zerstört. Heute ist nur noch ein kleiner Rest von dem einst prächtigen Gebäude erhalten. Weil der Neusser Bahnhof zu bedeutendsten gehörte, die die Rheinische Eisenbahn Gesellschaft zusammen mit der Bergisch-Märkischen Bahn betrieb, ließ das Museum das Stationsgebäude als Modell im Maßstab 1:87 erstellen, um die Glanzzeit zu dokumentieren. Mit dem Eisenbahnanschluss veränderte sich die Stadt aber auch in ökonomischer Hinsicht. Vor allem profitierten die Futter- und Lebensmittelbetriebe von dem neuen Verkehrssystem. So avancierte Neuss durch das Zusammenspiel von Eisenbahn und Hafenausbau zum drittgrößten Ölmühlenstandort im Deutschen Reich. Die Stadt lag in der Produktion hinter Hamburg und Bremen, jedoch vor Lübeck, Danzig und Stettin. Zugleich setzte ein dynamischer Schub ein, der die Industrialisierung in dem bis weit in das 19. Jahrhundert hinein eher ackerbürgerlich geprägten Neuss bewirkte. Zwar waren die Umwälzungen nicht so umfassend und radikal wie im nahen Ruhrgebiet. Weil sich in Neuss ein ausgewogenes Verhältnis von Klein-, Mittel- und Großbetrieben erhielt. Dadurch wirkten sich die wirtschaftlichen Krisen hier nicht so gravierend aus wie in den Städten mit einer Monostruktur. Aber dennoch gab es auch hier spürbare Auswirkungen auf das soziale und kulturelle Leben.Von der Industrialisierung wurden zunächst die Getreide- und Ölmühlen erfasst. Die günstige Infrastruktur gab für die anderen Branchen ebenfalls wichtige ökonomische Impulse. Denn auch sie begannen sich in Neuss von Handwerksbetrieben und Manufakturen zu Industrien zu entwickeln. Außerdem siedelten sich in der Stadt in Folge der günstigen Voraussetzungen auch neue Fabriken an. Zunächst sind die Eisen verarbeitenden Unternehmen zu nennen. Im Gegensatz zu den Textilfabriken, die in Neuss um die Jahrhundertwende bis auf die Krawatten- und Weißwarenproduktion verschwunden waren, entwickelte sich hier eine bedeutende Metall- und Maschinenindustrie. Vielfach produzierten sie Maschinenteile für die örtlichen Mühlenbetriebe. 1860 siedelte sich die Neusser Bergbau- und Hüttenkommanditgesellschaft am Eingang des Erfthafens an und betrieb hier eine Eisenhütte mit einem Hochofen und 17 Koksöfen. 1866 wurde ein zweiter Hochofen errichtet, der mit 7.000 Kubikmetern einer der größten des Kontinentes war. Die Errichtung des Werkes durch die Neusser Eisenwarenhändler Rainer Broix, und den Kohlenhändler Wilhelm Heinrich Elfes sowie dem Ölmühlenbesitzer Heinrich Thywissen, stand im Zusammenhang mit dem zunehmenden Industrialisierungsprozess und dem hohen Eisenbedarf für den Bahnbau im Deutschen Reich, sowie für den Mühlen- und Maschinenbau in Neuss. Die gute Verkehrsanbindung und die Nähe zu den Kohlerevieren ließ die Hütte zunächst florieren. Nach wirtschaftlichen Krisen musste die Hütte jedoch 1884 still gelegt werden. 1875 erfolgte die Gründung der Schrauben- und Mutternfabrik Bauer & Schaurte. Dieses Unternehmen, war von zwei nicht aus Neuss stammenden Geschäftsleuten bewusst an diesem Standort errichtet worden, weil die Stadt verkehrsgünstig und in der Nähe wichtiger Märkte lag. Außerdem gab es hier inzwischen qualifizierte Fachkräfte. Die Fabrik entwickelte sich zur größten in Neuss. 1899 waren hier 400 Arbeiter beschäftigte und 1937 bereits 2200 Personen. Insbesondere vom wachsenden Eisenbahnbau konnte das Unternehmen profitieren. Weiterhin sind die Betriebe zur Fabrikation von landwirtschaftlichen Maschinen zu nennen. Auf Grund der guten infrastrukturellen Voraussetzungen ließ sich 1908 die International Harvester Company aus Chicago in Neuss nieder.Neben diesen wichtigen Veränderungen ergaben sich auch soziale und kulturelle Wandlungen; wie z.B. der Zuzug von Arbeitern, die Polarisierung von Ackerbürgern und Unternehmern sowie die Förderung von Kunst und Kultur und der katholischen Interessen während des Kulturkampfes in Folge des wachsenden Wohlstandes.Ein Hauptaugenmerk erhält in der Ausstellung aber auch die Tatsache, dass ohne das Engagement einflussreicher Neusser Bürger, die die Chancen und Potentiale des neuen Verkehrssystems erkannt hatten, die Eisenbahn wohl kaum zu diesem frühen Zeitpunkt über Neuss geführt worden wäre. Denn neben den Bürgermeistern beteiligten sich gerade führende Vertreter der Neusser Wirtschaft aktiv an Komitees und Versammlungen zur Errichtung von Bahnlinien und -gesellschaften. Und da dies zu einer Zeit geschah, als der preußische Staat die Initiative zum Eisenbahnbau noch privaten Personen und Unternehmern überließ, kam diesem bürgerlichen und kaufmännischen Engagement ein besonderer Stellenwert zu. Durch ihre Tatkraft konnten die Bürger weit über den eigenen Betrieb hinaus die Gesamtwirtschaft der Stadt und der Region günstig beeinflussen. Dies wird in beeindruckender Weise z.B. durch Schreiben an die preußische Regierung seit Mitte der 1830er Jahre sowie durch das an den König gerichtete Immediatgesuch von 1842 und durch die königliche Audienz in Berlin im gleichen Jahr deutlich. Mit diesen Versuchen bemühte man sich von städtischer Seite um jeweils für Neuss günstig verlaufende Trassenführungen bei den geplanten Eisenbahnprojekten in der nördlichen preußischen Rheinprovinz. Die Bemühungen der Stadt fielen in eine Epoche als der beginnende Aufbau von Bahnlinien im Deutschen Reich seinen Anfang nahm. Erst 1825 und 1832 hatten Männer wie Friedrich Harkort und Friedrich List sich für das neue Transportmittel stark gemacht. Als Neuss mit seinen Aktivitäten 1836 begann, gehörte man zu denen, die sich schon früh um den Bahnbau bemühten. Neuss konnte damit den Entwicklungs- und Modernisierungsprozess aktiv mitgestalten und von den revolutionären Veränderungen, die das neue Verkehrssystem mit sich brachte erheblich profitieren.*