Zerstörung von Palmyra zu Musik gemacht
Zerstörung von Palmyra zu Musik gemacht

Zerstörung von Palmyra zu Musik gemacht

Junger Syrer in Neuss erweist sich als musikalisches Talent Lesen Sie den Bericht von Petra Schiffer aus der NGZ vom 4. Juni 2018

Palmyra stürzt in Fortissimo-Akkorden und düsteren Harmonien zusammen. Virtuos greift Moudar Alali in die Tasten des Flügels. Der 16 Jahre alte Schüler ist mit seiner Familie aus Dscharamana nahe Damaskus geflüchtet und lebt seit einem Jahr in Neuss. Seit er neun Jahre alt ist, komponiert er, um in Klängen auszudrücken, was ihn beschäftigt. Die Zerstörung der Kulturstadt Palmyra in seinem Heimatland Syrien hat er in einem technisch anspruchsvollen Klavierstück mit vier Sätzen vertont. „Moudar ist ein absolutes Ausnahmetalent“ sagt Ralf Beckers, Dozent an der Neusser Musikschule.

Die Mutter, Englischlehrerin, singt, der Vater, Ingenieur, spielt Gitarre, Moudars jüngerer Bruder lernt Geige – und er selbst erhält im Alter von sechs Jahren den ersten Unterricht in Klavier und Musiktheorie. Das Klavierspiel wird für den Jungen ein zentraler Bestandteil seines Lebens. Schnell reicht es ihm nicht mehr, die Werke anderer zu spielen. Er beginnt, mit eigenen Kompositionen zu experimentieren.

Die Musik gibt ihm Halt, als das Leben um ihn herum immer instabiler wird. „Mein Vater war bereits in den 80-er und 90-er Jahren inhaftiert, weil er in einer kommunistischen Partei aktiv war“, berichtet Moudar. „Er fürchtete nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs immer mehr um seine Sicherheit.“ Außerdem gehört die Familie der religiösen Minderheit der Drusen an, einer Glaubensgemeinschaft, die sich im Mittelalter vom Islam abgespalten hat, und jetzt vom IS bedroht wird.

Vor zwei Jahren fasst die Familie den Entschluss, dass die Gefahr zu bleiben, zu groß ist. „Wir mussten alles verkaufen, auch das Klavier. Das war am schlimmsten für mich“, erzählt Moudar. Ihr Geld geben die Alalis Schleusern, die versprechen, sie nach Europa zu bringen – und machen sich mit dem auf den Weg, was sie tragen können. „Es war nicht gut, diesen Menschen vertrauen zu müssen, aber wir hatten keine Wahl“, sagt Moudar.

Zu Fuß gelangen sie über einen Gebirgszug in die Türkei, der herzkranke Vater muss gestützt werden. Beim ersten Versuch, mit einem Schiff nach Griechenland zu gelangen, werden sie verhaftet. Der zweite Anlauf gelingt. In einem Auffanglager in Griechenland simuliert Moudar auf dem Tisch das Klavierspiel, um sich abzulenken.

Die erste Station für die Familie in Deutschland ist Herford, wo der junge Pianist einen Musiker kennenlernt. Er verspricht ihm sein altes E-Piano. Als die Familie schließlich eine Wohnung an der Hölderinstraße in Neuss beziehen kann, gehört das Instrument zur Erstausstattung.

Seitdem spielt Moudar wieder regelmäßig, ein bis zwei Stunden am Tag. „Ich mag Liszt“, sagt er. „Oder Beethovens Mondscheinsonate.“ Und er komponiert sein erstes Orchesterwerk. Die Partitur zeigt er seinem Musiklehrer am Humboldt-Gymnasium, das er besucht. Dieser schickt den 16-Jährigen zu Ralf Beckers, der an der Musikschule nicht nur den Bläser-Fachbereich leitet, sondern auch das Nachwuchsorchester Sinfo.

Moudars Bitte: Sinfo soll seine Komposition in einem Konzert vorstellen. „Ich war beeindruckt von den Noten, die Moudar unter dem Arm hatte“, sagt Ralf Beckers. Aber für das Jugendorchester eignet sich das Werk des jungen Künstlers nicht. Beckers will den syrischen Flüchtling jedoch auf keinen Fall entmutigen.

Die beiden sprechen lange miteinander – das Ergebnis ist die Präsentation des Klavierstücks „Palmyra“ im Rahmen eines Konzerts an der Musikschule, gespielt von Moudar selbst. Das Publikum ist begeistert, und die Basis für die weitere Förderung gelegt. „Wir bemühen uns, dass Moudar so schnell wie möglich Klavierunterricht hier bei uns erhält“, erklärt Beckers. Und der Teenager soll Aufträge für Kompositionen bekommen, die Musikschüler in Ensembles präsentieren können.

Diese Perspektive gibt Moudar Hoffnung, die er nicht aufgeben will. Nicht für seine Familie, nicht für sich – und auch nicht für sein Heimatland. Palmyras Schicksal wird in seiner Klavierkomposition nicht mit Bombenexplosionen besiegelt. Zarte Arpeggien in die hohen Lagen des Instruments lassen Gedanken an den Wiederaufbau in besseren, friedlichen Zeiten zu.